Nach der Theorie sind fast alle Menschen krank

Vom „Triumph der Medizin“

Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles andere nichts“, lautet eine Binsenweisheit. Man kann unendlich viel für seine Gesundheit tun. Das hat aber so gut wie gar nichts damit zu tun, ob man sich auch gesund fühlt.

Der Begriff Gesundheit entzieht sich weitgehend einer Definition, wenn man einmal von der platten Floskel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) absieht: vollständiges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden! Gesundheit ist letztlich ein höchst subjektives Gefühl, trotz allen medizinischen Fortschritts nicht willkürlich machbar oder herstellbar. Der Philosoph Hans Gadamer definiert Gesundheit als Zustand des selbstvergessenen Weggegebenseins an Andere oder Anderes. Übertragen in die Alltagssprache heißt das, man ist viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als dass man sich über sein körperliches und seelisches Befinden große Gedanken macht.

Unsere heutige Gesellschaft mit ihrem Gesundheitssystem zieht das in Zweifel. Sie kehrt gewissermaßen die Beweislast um nach dem Motto: jeder gesunde Mensch ist ein Kranker, der es nur noch nicht weiß. Allumfassenden Gesundheitsversprechungen der Krankenkassen und ihrer politischen Protektoren treiben aber mit diesem überzogenen Gesundheitsbegriff der Gesellschaft langsam die Vitalität aus. Physiologische Alterungsprozesse werden ebenso „krankhaft“ umgedeutet wie vorübergehende oder entwicklungsbedingte Störungen.

Ein Beispiel ist das „Aging-male“ - die Menopause des Mannes. Der physiologische Leistungsabbau ab Anfang 50 wird auf ein Absinken der männlichen Sexualhormone zurückgeführt, wobei die individuelle Schwankungsbreite bekanntlich bis ins hohe Alter sehr groß ist und diese keineswegs mit der sogenannten „Potenz“ korreliert. Geschäftstüchtige Pharmafirmen empfehlen mittlerweile grundsächlich auch beim schwächelnden Mann eine Hormonsubstitution, wohl wissend dass Prostatakarzinome und Leberschäden auftreten können. „Krankheitserfinder“, wie ein „Spiegel“-Artikel im August lautete, verdienen ihr Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden krank zu sein. Ob soziale Phobie, Internetsucht, erhöhtes Cholesterin, larvierte Depression, Weichteilrheuma, Reizdarmsyndrom, erektile Dysfunktion oder ADHS, früher auch als Zappelphilippsyndrom bezeichnet, - wie und wo und was es sei, eine Krankheit ist immer dabei.

Auch im Bereich der Psyche gelingt die Umwandlung einer Störung ins Krankhafte sehr gut, denn es gibt keinen Mangel an Theorien, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind.

Auch hat die Zahl der Depressionen in den USA von 1,7 (1987) auf 6,3 Millionen (1997) sich fast vervierfacht. Deutschland hat etwa so viele Betten in psychosomatischen Rehabilitations- und Kurkliniken wie der Rest der Welt zusammen (Dörner), die unser Jammern über Geldknappheit nicht versteht, solange wir uns diesen von Bismarck zur sozialen Befriedigung geförderten „Zauberberg-Sumpfblütenzopf“ noch leisten.

Sind wir denn wirklich so krank oder leiden wir nicht oft nur an der Diagnose? Sicherlich, es gibt schwere und lebensbedrohliche Erkrankungen, die aber laut Statistik nur bei etwa 20 Prozent aller Personen, die in einer Hausarztpraxis behandelt werden, festgestellt werden können. Die Übrigen leiden an Störungen vielfältiger Art, häufig auch an den schwierigen Lebensumständen, und bedürfen eher der menschlichen Zuwendung und des Gesprächs, das durch die Gebührenordnung kaum honoriert wird, statt aufwendiger Diagnostik und teurer Medizin.

Es sollte auf keinen Fall soweit kommen wie in dem französischen Dreiakter „Knock oder der Triumph der Medizin“, der davon handelt, wie gesunde Menschen in Patienten verwandelt werden. Ein sonderbarer und geschäftstüchtiger Doktor überzeugt unbedarfte Dörfler davon, dass sie krank sind und ständiger Betreuung bedürfen. Knock erreicht schließlich sein Ziel und blickt des Abends um Punkt 10 Uhr in 250 hell erleuchtete Krankenstuben, in denen - wie vom Doktor verordnet - 250 Fieberthermometer in die dafür vorgesehenen Körperöffnungen geschoben wurden, um ja kein krankmachendes Fieber zu übersehen!

Ihr Medicus

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